Sozialstrukturen
"... wenn man aber die
zentrale Energiequelle, aus der das Leben des Einzelnen gespeist wird,
zu bestimmen sucht, so liegt diese für den germanischen Menschen
in der Sippe ... Das ist der Friede (friðr), der in der Sippe waltet; sie gibt
jedem die Möglichkeit, zu freier, fast schrankenloser Wirkung nach
außen; denn er weiß, daß für jede seiner Taten die ganze Sippe die
Verantwortung auf sich nehmen wird. Hier gilt kein ethisches Werten
der verübten Tat; man kann sie bedauern, man kann aber ihren Folgen
nicht entsagen. Diese rücksichtslose, durchaus instinktive Pflicht
zur Hilfeleistung an jeden, der in irgendwelcher Gefahr sich befindet,
weil die Sippe als Ganzes keine Beeinträchtigung ihrer Ehre dulden kann,
beweist deutlich die religiöse Grundlage, auf der die germanische
Familie ruht. Deshalb ist auch ein Kampf zwischen Sippengenossen das
größte Unglück, das eine Familie befallen kann;
die höchste Steigerung des Tragischen bildet in der Heldensage
gerade der Verwandtenstreit."
Jan de Vries
Traditionelle Gesellschaft
Für das Verständnis der Alten Sitte wie auch der germanischen Mentalität ist es unverzichtbar,
sich zunächst einmal die Gesellschaftsstruktur anzuschauen, die in historischer Zeit
bestand. Die Germanen lebten in einer traditionellen Gesellschaft, die sich auch im Inhalt ihrer
Mythologie wiederspiegelt. Das Weltbild solcher agrarisch-wildbeuterischen Gesellschaften besteht
nach Müller in einem 'dualen Zwei-Sphären-System'. Die eigene Siedlung ist der Kosmos,
jenseits ihrer (engen) Grenzen beginnt feindliches Außenland, die chaotische Wildnis. Die Eddas
spiegeln das: Hier ist Midgard, die Welt der Menschen, - dort ist Utgard, die unbewohnbare Welt
der Riesen. Allerdings ist Midgard als Bezugsrahmen schon deutlich größer als nur die
eigene Siedlung. Hasenfratz führt aus, daß
in der lebensfeindlichen Außenwelt Chaos herrsche, daß dieses Chaos aber durch normenwidriges
Verhalten auch in die Endosphäre eindringen könne. Im Innern der Gemeinschaft gibt es also
eine Kontinuität von 'Gutem', während das 'Böse' von außen eindringt. Wer Normen im Innern
bricht, wird ausgestoßen, geächtet, wird zum vargr (Wolf). Jeder Bruch in dieser "Kontinuität des Guten" ist
bedrohlich, so die verschwindende Sonne hin zur Wintersonnenwende, der Übergang
vom Kind zum Erwachsenen, die Periode der Frauen,
Krankheit und Tod, zu denen Hasenfratz schreibt:
"Durch den Einbruch von Krankheit und körperlichem Verfall in den kollektiven Lebensbereich
ist eine Bresche gerissen, durch die Exosphärisches ungehindert einströmt und das Gleichgewicht
der Sphären destabilisiert".
Für all das gibt es (Übergangs- oder Reinigungs-) Riten, die die Kontinuität sichern sollen.
Die Menschen stammen von den Göttern ab,
diese wiederum von den Riesen, haben also riesisches "Chaos"
in sich - was letztlich durchbrechen und zum Untergang führen wird.
Kleinste Keimzelle dieser beschriebenen Kontinuität des täglichen Lebens ist die Sippe.
Simek hat bei der Betrachtung der germanischen Gesellschaft
einen anderen Fokus: er sieht die ständisch gegliederte Sklavenhaltergesellschaft im Vordergrund und betont den
immensen wirtschaftlichen Faktor des Sklavenhandels.
Germanische Sippe
Die Sippe (ætt, kyn) kann als das
Grundelement der germanischen Gesellschaft gelten.
Sie umfaßt im weitesten Sinne alle Blutsverwandten, Eingeheirateten und Verschwägerten,
wobei die Frau auch nach einer Heirat Mitglied ihrer Stammsippe bleibt, obwohl sie von der Munt (Schutz u.
Vormunschaft) des eigenen Sippenoberhauptes in die des Mannes übergeht.
Die Sippe umfaßte allerdings nur (Voll-)Freie, nicht Halbfreie oder Sklaven.
In ihr herrscht unter normalen Umständen Friede (friðr) und gegenseitige Solidarität.
Nur wer fest in die Strukturen seiner Sippe eingebunden war, konnte ein
sinn- und heilvolles Leben führen. Hier wird deutlich,
welch große Strafe die "Ächtung"
gewesen sein muß: Der Geächtete wurde "vogelfrei", wie wir sagen würden, man
dachte früher, er würde zum Wolf, so daß er in letzter Konsequenz seinen Mitmenschen auch
als Wolf begegnen könne. Die Sippe war aber
keineswegs nur der schützende 'Mutterschoß': Vom Einzelnen wurde erwartet, daß er
sein Leben an den Sippenmaßstäben und der Sippenehre ausrichtete. Es lastete also ein
(Konformitäts-)Druck auf dem Einzelnen, wobei die Sippengemeinschaft aber auch die Kraft gab,
dem gewachsen zu sein, und eine tragfähige Gemeinschaft die Möglichkeit hatte, Anforderungen
gemeinsam gegenüberzutreten. So trat man auch zu den Jahresfesten
gemeinsam vor die Götter und opferte ihnen als Sippengemeinschaft.
Wichtig ist hier der auf der Seite über Seelenvorstellungen schon vorgestellte Begriff
des hamingja, der eben auch
das durch die Sippe bestimmte Glück des Einzelnen bedeutet
und meiner Meinung nach durch die Rune Wunjo symbolisiert wird.
Eine historisch nicht hundertprozentig gesicherte Begebenheit mag zeigen, wie sehr sich dieses
Zusammengehörigkeitsgefühl in der Sippe auch auf die bereits verstorbenen Ahnen ausweitete:
Der Friesenfürst Radbod soll die christliche Taufe mit der Begründung abgelehnt haben, daß er
lieber mit seinen ungetauften Ahnen in der Hölle schmoren werde, als durch die Taufe von diesen
Ahnen getrennt zu werden (Stéphane Lebecq, La baptême manqué du roi Radbod).
Exkurs: Für heutige Heiden kann diese Betonung der Sippe schwer verständlich sein - leben wir doch in einer "freiheitlichen" Gesellschaft, die traditionelle Bindungen und Anschauungen sukkzessive auflöst. Wer dann noch Gewalt und / oder Mißbrauch in der eigenen Familie erlebt hat, wird Schwierigkeiten haben, dieses positive Sippengefühl zu entwickeln. Man bedenke dabei, daß es vor den "problematischen" Personen Generationen von Menschen gegeben hat. Durch die eigenen Kindern wird die Linie weitergeführt. Vielleicht hilft es, dann die kritisierten Personen insofern aus der eigenen Ahnenreihe auszuschließen, daß man ihrer nicht gedenkt oder sie nicht nennt. Auch der Blick in die Zukunft und der Vorsatz, die eigenen Kindern so gut wie möglich zu erziehen (s.a. die 9 Tugenden), mag helfen.
Neben der normalen Vertragsehe (als Vertrag zweier Sippen) gab es noch Friedelehen (dauerhafte Beziehungen ohne Vertrag), Raub- und Entführungsehen, auch Witwenehen. Dazu konnte ein Mann auch Nebenfrauen (z.B. Sklavinnen) haben. Tacitus züchtige Schilderungen scheinen nicht ganz so das korrekte Bild wiederzugeben.
"Sippe und Ahnen sind das Band, das uns mit dem Ursprung unseres
Seins in der Erde und den Göttern verbindet. Aus der Sippe kommt alles Heil, für die Sippe erwirken
wir alles, was wir ihm hinzufügen können. Wir leben nicht nur in der Sippe, wir leben
auch aus ihr: Ohne sie wären wir weder geboren noch geworden, was wir sind. Man kann
sogar sagen, ... daß wir die Sippe sind."
[Asfrid OR, 'Ringhorn 40; VfGH']
Man sollte dazu auch das programmatisch "Die Seele des Menschen ist die Seele der Sippe" überschriebene Kapitel in Grönbechs bekanntem Werk lesen. Hieraus wird insbesondere deutlich, daß uns im heutigen Heidentum oft ein verfälschtes Bild entgegentritt, nämlich eine große Egozentrik, ein Individualismus, oder auch der Wunsch nach "Selbstverwirklichung". Gerade der letzte Begriff ist mit einer historisch verstandenen germanischen Religion nicht in eins zu bringen.
"Heil ist der letzte und tiefste Ausdruck für das Wesen des Menschen und
zugleich der umfassendste. Man kann nicht weiter gelangen; wie tief man auch in die Menschenseele
eindringt, nie wird man hinter das Heil blicken. Vor allem ist das Verwandschaftsgefühl eine
Äußerung des Heils, und wenn Bosheit und Neidingschaft hervorbrechen, ist es ein Zeichen,
daß das Herz dieser Sippe zerstört ist, und wir können dann mit Gewißheit
voraussagen, daß auf dieses erste Neidingswerk andere folgen werden, und daß das
Wirken dieser Sippe keine Frucht tragen wird."
Grönbech
"Die Heiligkeit der Sippe ist höchstes Recht und höchste Pflicht. Und wenn ein Gott
gegen das Recht steht, dann steht das Recht über dem Gott wie über den
Menschen. Ihm müssen sich beide verantworten, das Recht fällt über sie
das Urteil. [...]
Wemund fühlte sich zuinnerst mit Thor verbunden: was ihm heilig war - das Recht, das über
den Göttern stand, und die großen Pflichten der Sippe -, daswar auch heilig für
Thor."
[Åkerhielm, 'Wemunds Rache']
Freunde - Fremde - Friede
Aus dieser Sichtweise folgt natürlich auch, daß der "Sippenfrieden" eben auch an
der Sippengrenze endet. Hasenfratz erklärt,
daß die Grundbedeutung von "Freund" Verwandter sei. Freund sei wiederum mit Friede
verwandt (Wurzel: fri = lieben). "Der Sippenfremde ist grundsätzich 'Feind'."
(Hasenfratz) "Nächstenliebe" ist
kein germanischer Wert, dafür waren die Germanen viel zu vorsichtig bzw. realistisch. Nur wenn ich eine
Art Vertrag mit jemandem habe, kann ich ihm einigermaßen trauen. Eine Form
war die in der Praxis gerne gewährte Gastfreundschaft.
Ohne den Gast auszufragen oder einer Gesinnungsprüfung
zu unterziehen, wurde er freundlich empfangen und bewirtet. Dabei wurde natürlich erwartet, daß er
sich dieser Gastfreundschaft auch würdig zeigt. Der Gast war z.B. im Haus des Gastgebers
vor Verfolgung geschützt.
Diese Unsicherheit der Außenwelt war den Menschen bewußt, deshalb entwickelten
sie etwas, das Hasenfratz als Mechanismen
sozialer Bindung, in seinem neuen Buch
auch als Außenbindungen durch Systemübertragung, bezeichnet:
Abkommen, Verträge, Bündnisse, Zieh- und Pflegekindschaft, Eid- und
Blutsbrüderschaft, Männerbünde und Gefolgschaften sowie
bereits erwähnte Gastfreundschaft (-sgeschenke) sichern die
menschlichen Beziehungen. Nach Hasenfratz war
die Bezeichnung für ein Männerbundmitglied "sveinn", abgeleitet von der gleichen Wurzel
swoi/swe/se, die auch in 'Sippe' steckt - das bedeutet 'Eigener, Zugehöriger'.
Auch das Gottesverständnis hat damit zu tun, wie man mit Fremden umgeht. Fremde, also
Menschen, die z.B. aus einem ganz anderen Kulturkreis stammen, zähle ich nicht zur "Gesippschaft",
der engen Verbindung zwischen den Menschen und ihren germanischen Göttern. Fremde werden
Freunde, also "Verwandte", wenn sie eine Bindung eingehen, durch die sie in
die Sippe Aufnahme finden können, also z.B. durch Heirat.
"Andererseits war der Zutritt zu der Feier [dem Blot]
für alle Fremden gesperrt. Diese Zusammenkünfte, wo die Männer mit vollen Schalen aus der Quelle der Kraft schöpften,
waren nur für die Mitglieder der Sippe, für die wahren Verwandten oder die wahren
Genossen."
Grönbech
Überregionale Strukturen
Boyer führt aus, daß die Sippen die territoriale Struktur land bildeten, die
als Zentrum einen þing-Platz hatte. Die Basis einer Sippe war meist ein bœr (Hof),
also der Wohnsitz eines freien Bauern und Grundeigentümers (bondi). Diese Angaben gelten für die
von Boyer beschriebene Wikingergesellschaft.
Bei der gesetzgebenden und -sprechenden Versammlung, Thing,
durften nur die vollfreien Bauern abstimmen. Wichtig ist, daß eine Exekutive fehlte. Bekam man beim Thing Recht, mußte
man es sich noch selbst holen. Gegenüber diesem 'protodemokratischen'
(Simek) Instrument des Things war das Kriegswesen
klar hierarchisch strukturiert (Gefolgschaftswesen, comitatus). Hier gab es Kleinkönige (thiudans) und Heerkönige
(reiks).
Gemeingermanisch sah das wohl so aus, daß sich die zu Stämmen zusammengeschlossenen
Sippen einen "Stammesfürsten" wählten, der auch als Abgesandter an Thing-Versammlungen
teilnahm. In Kriegszeiten konnte der Stammesfürst zum "Herzog" werden, demgegenüber
die freien Männer wehrpflichtig waren. Junge Männer lebten zeitweise in der Gefolgschaft
eines Stammesfürsten oder Herzogs.
Baetke weist darauf hin, daß das Politische aber immer
dem Religiösen untergeordnet gewesen sei; letzteres bilde den Seelengrund. Deshalb seien alle germanischen
Staatsverbände "säkularisierte Kultverbände".
Simek weist darauf hin, daß sich die germanischen Stämme
nicht biologisch-ethnisch definierten, sondern multiethnisch zusammengesetzt gewesen sein konnten. Man habe sich
jedoch um einen "Traditionskern" formiert, z.B. einen Abstammungsmythos der anführenden Elite.
"Der Mensch am Stamm seiner Sippe ist wie die Blüte am Aste eines
Baumes. Wie diese eine in sich selbst geschlossene organische Form ist, die aber ihre Nahrung
aus den Fasern der Zweige empfängt, so ist auch der einzelne Mensch immer einer Ergänzung
bedürftig, die ihm erst das volle Leben gewähren kann. Wer ganz allein auf sich gestellt
ist, ob er nun als nìðingr, als 'Neidung', aus der der Gemeinschaft der
Stammesgenossen ausgestoßen ist oder aller seiner Verwandten beraubt wurde, steht schwach
und schutzlos in den Stürmen des Lebens und fühlt sich dem Tode verfallen ... In dieser
Hinsicht ist der Mensch einer archaischen Kultur niemals ein Individuum in unserem heutigen
Sinne des Wortes, sondern nur Teil eines Ganzen."
de Vries
Seiteninfo: 1.Autor: Stilkam | 2.Autor: ING | Weitere Autoren: - | Stand: 20.03.2020 | Urheberrecht beachten!